Am 20. Mai wäre der israelische Historiker Michael Graetz 85 Jahre alt geworden. Er glaubte an die schöpferische Kraft des Menschen und deren erhebende Ausstrahlung – und er verkörperte diese Kraft: originell denkend, voll unermüdlicher Energie und Leidenschaft. Auch als ermutigenden Impuls für Gegenwart und Zukunft lässt sich darum sein wissenschaftliches Schaffen verstehen. Er widmete es innerjüdischen soziokulturellen und politischen Transformations- und Modernisierungsprozessen an unterschiedlichsten historischen Wendepunkten. Welchem Thema auch immer er sich dabei zuwandte, er machte mit untrüglichem Gespür für das Wesentliche die großen Linien aus und beleuchtete seinen Gegenstand mit beeindruckender analytischer und konzeptioneller Schärfe. Davon zeugt nicht nur die Abhandlung über die jüdische Aufklärung im ersten, im Auftrag des Leo Baeck Instituts gemeinsam mit Mordechai Breuer verfassten Band des vierbändigen Standardwerks „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit“.
Sein eigener Werdegang war der Grund, warum Kristallisationspunkte einer nationaljüdischen Idee sein besonderes Interesse weckten. Michael Graetz verstand es, ihnen nuancierte Konturen zu verleihen und ihre strukturelle Bedeutung sowie kontextuale Einbettung präzise zu umreißen: etwa wenn er die säkularen Wirkungen des Chassidismus unterstrich oder nach Forschungsjahren in Paris eine aus dem hebräischen Original auch ins Französische und Englische übersetzte umfassende Studie über die französischen Juden im 19. Jahrhundert vorlegte. Am 200. Jahrestag der Französischen Revolution stieß sie wie auch die parallel von ihm angefertigte, mit seiner ausführlichen Einleitung versehene Edition ins Hebräische übersetzter Quellen über die „Französische Revolution und die Juden“ auf ein großes Echo weit über Israel und Frankreich hinaus.
1933, im Geburtsjahr von Michael Graetz, musste seine deutsch-jüdische Familie aus ihrer Heimatstadt Breslau fliehen. Im Schweizer Exil prägten ihn die sozialistisch-zionistische jüdische Jugendbewegung „Hashomer Hatzair“ und die Liebe zu den Schweizer Bergen. Der Neuankömmling im jungen Staat Israel unterrichtete anfangs Grundschulkinder in einem Kibbuz im Negev und studierte dann Geschichte bei Shmuel Ettinger und Chaim Hillel Ben-Sasson. Beide inspirierten ihn, multiperspektivisch und vor breitem europäischem Horizont zu forschen. In den vielen Sprachen, die ihm geläufig waren, war er ein charismatischer Redner, der leicht verständliche, klare Worte für komplexe Zusammenhänge fand. Auf eine Assistenzprofessur an der Universität Haifa folgten eine Professur für Moderne jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, seiner Alma Mater, sowie Fellowships und Gastprofessuren in Frankfurt am Main, San Diego und Bloomington. Als Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg initiierte er – auch hierbei geleitet vom Gedanken einer kulturellen Erneuerung jüdischer Gemeinschaft – die „Ignatz-Bubis-Stiftungsprofessur für Religion, Geschichte und Kultur des europäischen Judentums“, die der Rabbiner-Ausbildung in Deutschland dienen sollte.
Sein letzter Heidelberger Vorlesungszyklus galt – für ihn politisch, wissenschaftlich und autobiographisch folgerichtig – den gegensätzlichen jüdischen Positionen und Vorstellungen, die der israelischen Staatsgründung vorausgingen. An die lange Tradition nicht realisierter Visionen von friedlicher Koexistenz wollte er damit erinnern und dass es womöglich Optionen gäbe, deren Wiederbelebung heute Not täte. Diese Vorlesung zum Buch zu machen, war ihm nicht mehr vergönnt. Am 8. April ist Michael Graetz gestorben – trotz langer schwerer Krankheit ungebeugt und bis zum Schluss von bewegender innerer Stärke.
Von dem, was ihm zuteil war, vermittelte er in reichem Maße. Ihn zum Lehrer und Gefährten gehabt zu haben, ist ein verpflichtendes Vermächtnis im so friedlos beginnenden 21. Jahrhundert.
Andrea Hopp
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